KAB Bamberg
Gerechter Lohn – sozialethische Herausforderung zum Handeln
Dr. Manfred Böhm, Leiter der Betriebsseelsorge im Erzbistum Bamberg
„Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“. So der Titel eines ursprünglich englischsprachigen Buches, das 2010 auch in Deutschland erschienen ist. Darin wird in einer weltweiten Untersuchung der enge Zusammenhang zwischen einer gerechten Güterverteilung, dem persönlichen Wohlbefinden und der damit verbundenen Lebenserwartung belegt.
In Kerala beispielsweise, einem armen Bundesstaat im Süden Indiens, werden die Menschen heute im Durchschnitt 74 Jahre alt. In Brasilien, das sechsmal wohlhabender ist, sterben die Menschen hingegen im Durchschnitt mit 66 Jahren. Der Grund: Während in Brasilien die Kluft zwischen Arm und Reich sehr weit ist, sind die Einkommensunterschiede in Kerala sehr gering.
Bei allen Vergleichen stellte sich heraus, dass die Nationen mit den zufriedensten Menschen (etwa Skandinavien, Niederlande,…) zugleich auch diejenigen sind, die die ausgeglichenste Einkommensverteilung aufweisen.
Der frühe Tod der Menschen in Staaten mit mehr Ungleichheit ist auf den hohen Stress zurückzuführen, den die Menschen mit der Ungleichheit und den damit verbundenen Beeinträchtigungen aushalten müssen (mehr Angst, Sorgen und Not, weniger Wertschätzung und Lebensqualität). Dafür sprechen die verheerenden Daten aus den Umbruchstaaten des Ostens, etwa Russland, Litauen oder Ungarn – alles Staaten mit hoher sozialer Ungleichheit, unzufriedenen Bürgern und geringer Lebenserwartung. In Russland und Litauen z. B. ist die Sterblichkeit seit 1989 um ein Drittel gestiegen.
Über Geld – das ist eine wichtige Erkenntnis – werden in unserer Gesellschaft Lebenschancen verteilt.
Beim Thema „Gerechter Lohn“ geht es folglich nie nur ums Geld, sondern stets um die Verteilung von Lebenschancen, um einen Mehrwert an Leben:
- um Gesundheit
- um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
- um persönliche Entfaltungsmöglichkeiten
- um den sozialen Status der Familie
- um die Zukunft der Kinder
- um den subjektiven Selbstwert
- um gesellschaftliche Wertschätzung
- um die Lebensqualität in unserer Gesellschaft
Niedrige Löhne, die auf Dauer ganze Schichten in die Armut treiben, sind somit ein Angriff auf die menschliche Würde.
Der Mindestlohn ist noch lange kein gerechter Lohn, sondern ein Sicherungsnetz nach unten bilden soll, um den freien Fall in die Verarmung und damit in die gesellschaftliche Entwürdigung zu stoppen.
Die Kath. Soziallehre fordert seit jeher einen gerechten Lohn für die Arbeit des Menschen. Wer ihn verweigert oder nicht rechtzeitig und im richtigen Verhältnis zur geleisteten Arbeit auszahlt, begeht ein schweres Unrecht (Kompendium der Soziallehre der Kirche Nr. 302). Ausdrücklich wird auf das Ungleichgewicht der Macht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hingewiesen. „Die einfache Übereinkunft zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber hinsichtlich der Höhe der Vergütung genügt nicht, um den vereinbarten Lohn als ‚gerecht’ zu qualifizieren, denn dieser darf nicht so niedrig sein, dass er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft: die natürliche Gerechtigkeit ist der Vertragsfreiheit vor- und übergeordnet“ (302).
Damit sind vor allem zwei Aspekte betont:
- Ein Lohn ist nicht deshalb schon gerecht, weil er mit der Unterschrift auf dem Arbeitsvertrag akzeptiert worden ist:„Gesetzt, der Arbeiter beugt sich aus reiner Not oder um einem schlimmeren Zustand zu entgehen, den allzu harten Bedingungen, die ihm nun einmal vom Arbeitsherrn oder Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt leiden, und die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch“ (RN 34). Prekäre Löhne sind folglich eine Form von struktureller Gewalt.
- Die natürliche Gerechtigkeit ist dem Marktmechanismus und damit dem Marktpreis für eine Tätigkeit übergeordnet. Dem Markt müssen Grenzen gesetzt werden durch eine soziale Reglementierung.
Aber was meint die Kath. Soziallehre mit „natürlicher Gerechtigkeit“ und was ist in diesem Zusammenhang ein „gerechter Lohn“?
Natürliche Gerechtigkeit bezieht sich auf die grundsätzliche Güterverteilung in der Welt.
Deren Fundamentalsatz lautet: „Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen. Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht“ (PP 23).
Die Güter dieser Erde sind also für alle Menschen da und daraus ergibt sich ein grundsätzliches Recht auf ihren gemeinsamen Nutzen.
Der Lohn ist in diesem Zusammenhang das Mittel, das dem Arbeitnehmer Zugang zu den Gütern der Erde verschafft. Und ein Lohn ist nur dann gerecht, wenn er diesen Zugang im jeweiligen Kulturzusammenhang gewährleistet.
Von den Kritikern wird gerne darauf verwiesen, dass der Gedanke des gerechten Lohns eine sehr formale und abstrakte Bestimmung sei. Aber das stimmt nicht. In Laborem Exercens wird ein wichtiges inhaltliches Kriterium für den gerechten Lohn genannt:
„Die gerechte Entlohnung für die Arbeit eines Erwachsenen, der Verantwortung für eine Familie trägt, muss dafür ausreichen, eine Familie zu gründen, angemessen zu unterhalten und ihr Fortkommen zu sichern“ (19,3)
Diese Bestimmung ist weit mehr als eine Existenzsicherung, die durch einen Mindestlohn garantiert werden soll. Sie schließt den oben genannten Mehrwert des Lebens mit ein.
Eine zweite Begründungslinie aus der Kath. Soziallehre möchte ich noch ergänzen.
In der allerersten Sozialenzyklika, in „Rerum novarum“ von 1891, steht ein wichtiger Kernsatz. Es heißt dort: „Es ist eine unumstößliche Wahrheit, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen entsteht Wohlhabenheit im Staate“ (RN 27).
Das heißt, der gesellschaftliche Reichtum wird von den Arbeitnehmern durch ihre Hände und Köpfe Arbeit erwirtschaftet.
Daraus ergibt sich zum einen das Recht auf Mitbestimmung. Das soll jetzt hier aber nicht weiter behandelt werden.
Zum anderen aber folgt daraus, dass dem Arbeitnehmer über den Weg der Entlohnung ein angemessener Anteil an dem von ihm erwirtschafteten Ertrag zusteht.
Es widerspricht also der Gerechtigkeit, wenn der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Volkseinkommen zusehends sinkt.